Liebe Leserin, lieber Leser,
es gibt keinen Grund zur Panik. Aber es gibt angesichts möglicher Energieversorgungsengpässe im Herbst dringenden Handlungsbedarf – im Sommer trotz der Parlamentsferien.
Markus Söder und ich haben in dieser Woche das Kernkraftwerk Isar 2 in Landshut besucht. Die Werksleitung hat uns einen Blick in das Innere dieses Reaktors ermöglicht. Mit Neckarwestheim in Baden-Württemberg und dem Kernkraftwerk Emsland in Niedersachsen sind in Deutschland noch zwei weitere, moderne Kernkraftwerke am Netz, die sicher und zuverlässig Strom für rund 10 Millionen Haushalte in ganz Deutschland erzeugen. Nach gegenwärtiger Planung sollen diese drei Kraftwerke am Ende des Jahres den Betrieb einstellen.
Spätestens mit der durch den Kreml rein politisch motivierten Verringerung der Gasmengen, die seit dem Überfall auf die Ukraine aus Russland nach Deutschland geliefert werden, müssen wir die Energieversorgung auf neue Füße stellen. Alle Optionen gehören auf den Tisch, und dazu zählt auch die Kernenergie. Um es klar zu sagen: Wir wären vollkommen verrückt, wenn wir die drei noch laufenden Kernkraftwerke angesichts dieser Lage jetzt wie geplant vom Netz nehmen würden.
Technisch, personell und rechtlich ist ein Weiterbetrieb möglich. Das hat der TÜV in einem sehr umfangreichen und detaillierten Gutachten von der technischen Seite her bestätigt. Die Betreiber sind nach eigener Auskunft in der Lage, auch über den Jahreswechsel das notwendige Personal bereitzustellen, hochqualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die seit Jahrzehnten auf höchstem Niveau und verantwortungsvoll ihre Aufgaben erfüllen. Die rechtlichen Grundlagen für den Weiterbetrieb müsste der Gesetzgeber durch eine Änderung des Atomgesetzes schaffen. Und wenn der Betrieb über den sogenannten „Streckbetrieb“ hinaus ermöglicht werden sollte, und dafür spricht sehr viel, dann müssten jetzt, im August des Jahres 2022, neue Brennstäbe für die Kernkraftwerke bestellt werden.
Der Weiterbetrieb der Kernkraftwerke, die wir in Deutschland noch haben, und die zu den besten und sichersten der ganzen Welt gehören, liegt also ausschließlich in der Hand der Politik, konkret: der deutschen Regierung. Es ist ja schön, vom Bundeskanzler zu hören, er könne sich den Weiterbetrieb „vorstellen“. Aber was folgt denn aus seiner Vorstellungskraft? Gibt es einen Kabinettsbeschluss? Gibt es einen Regierungsentwurf? Gibt es einen Auftrag zur Bestellung neuer Brennstäbe? Die Betreiber der Anlagen sind nach wie vor auf ein Ende des Betriebs zum 31.12.2022 ausgerichtet. Wenn der Sommer verstreicht ohne politische Grundsatzentscheidung, dann ist es im Herbst zu spät, jedenfalls für einen ordnungsgemäßen Weiterbetrieb über das gesamte nächste Jahr. Den aber sollten und müssen wir ermöglichen, um im Stromsektor Engpässe und möglicherweise Blackouts zu vermeiden.
Wir machen der Bundesregierung erneut das Angebot, auch in den Sommerferien zu einer Sondersitzung des Bundestages zusammenzukommen, um die gesetzlichen Grundlagen für den Weiterbetrieb der drei Kernkraftwerke zu schaffen. Nach wie vor wird aus Gaskraftwerken Strom erzeugt. Auch die Kohlekraftwerke hätten sehr viel schneller hochgefahren werden müssen, um Gas wenigstens bei der Verstromung einzusparen. Die drei Kernkraftwerke könnten einen eigenen Beitrag für die Versorgungssicherheit unseres Landes leisten. Es wäre schon unserer eigenen Bevölkerung nicht zu erklären, wenn diese Kraftwerke jetzt abgeschaltet werden würden. Europäische Solidarität werden wir schon gar nicht einfordern können, wenn wir uns als einziges Land in Europa derart selbst beschädigen. Die Bundesregierung muss handeln, und zwar sehr bald, bevor es in dieser Frage zu spät ist.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende
Ihr Friedrich Merz