Liebe Leserin, lieber Leser,
der deutsche Aktienindex DAX 40 steigt von Rekord zu Rekord. Vor wenigen Wochen erst stand er bei 17.000 Zählern, in der letzten Woche erreichte er die 18.000. Zugleich schwächelt die deutsche Wirtschaft, 2023 ist sie sogar geschrumpft, die Wachstumsaussichten für 2024 bewegen sich um die Null-Linie. Wie passt das zusammen?
Der deutsche Aktienindex bildet die Wertentwicklung der 40 größten börsennotierten deutschen Aktiengesellschaften ab. Er ist also zunächst einmal kein repräsentativer Querschnitt der gesamten deutschen Wirtschaft. Aber auch die 40 DAX-Unternehmen sind für sich genommen keine „deutschen“ Unternehmen. Sie haben zwar alle ihren Sitz in Deutschland (und manches Mal einen zweiten außerhalb Deutschlands), aber Umsatz und Ertrag dieser Unternehmen werden weltweit gemessen. Und hier lohnt sich ein tieferer Blick in die Bilanzen: Die Umsätze dieser Unternehmen werden im gewichteten Durchschnitt allenfalls noch zu einem Viertel in Deutschland erzielt, und noch bescheidener sieht es bei den Erträgen aus. Ohne das Auslandsgeschäft wären die meisten klangvollen Namen der deutschen Industrie längst vom Kurszettel verschwunden, einige hält nur noch das Auslandsgeschäft am Leben. So hat das größte deutsche Chemieunternehmen im letzten Jahr zwar weltweit ein Ergebnis von 3,8 Milliarden Euro erzielt, in Deutschland aber zugleich einen Verlust von 1,2 Milliarden Euro hinnehmen müssen.
Dieses Verhältnis zwischen Gewinnen im Ausland und Verlusten im Inland fällt bei vielen Unternehmen nicht ganz so drastisch aus. Aber es gibt eine weitere Zahl, die uns alarmieren muss: Seit einigen Tagen liegen die vorläufigen Statistiken über die deutschen Auslandsinvestitionen im letzten Jahr vor. Schon im Jahr 2022 hatten wir mit 130 Milliarden Dollar den größten Kapitalabfluss aus Deutschland zu verzeichnen, der je gemessen wurde. Und auch im Jahr 2023 liegt dieser Betrag wieder bei fast 100 Milliarden Dollar. Dieser Kapitalabfluss kommt bei weitem nicht nur von den börsennotierten Aktiengesellschaften, sondern auch und vor allem aus den vielen Tausend mittelständischen und kleineren Unternehmen. Und ganz anders als die international tätigen Unternehmen hat der deutsche Mittelstand vor allem ein lokales und nationales Geschäft. Der Mittelstand ist also auf Deutschland angewiesen und kann nur begrenzt ausweichen.
Deshalb sollten wir uns nicht von den Rekorden des DAX blenden lassen: Die deutsche Wirtschaft steckt in einer tiefen strukturellen Wachstumskrise, und die lässt sich nicht mit ein paar wenigen Retuschen korrigieren. Der deutsche Standort hat immer noch große Vorteile, aber wir können sie nur nutzen, wenn zeitgleich an mindestens vier Stellschrauben die Kostenbelastungen korrigiert werden: bei den Arbeitskosten, bei den Bürokratiekosten, bei den Energiekosten und bei den Steuern. Daraus muss eine Agenda 2030 für den Standort Deutschland werden. Noch ist es dafür nicht zu spät.
Mit besten Grüßen
Ihr Friedrich Merz