Liebe Leserin, lieber Leser,
heute ist der Volkstrauertag. An diesem Tag gedenken wir der Toten und Verletzten aller Kriege und Gewaltherrschaften. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge richtet diesen Tag in jedem Jahr am zweiten Sonntag vor dem ersten Adventwochenende aus. In Berlin findet die Zentrale Gedenkfeier seit vielen Jahren im Reichstagsgebäude, im Plenarsaal des Deutschen Bundestages statt. In diesem Jahr haben Jugendliche aus Deutschland und aus Rumänien, dem Land des rumänischen Staatspräsidenten Klaus Iohannis, der die Gedenkrede gehalten hat, sehr eindrucksvoll von ihrer Arbeit für die Kriegsgräber in ganz Europa berichtet.
„Wer an der Zukunft Europas zweifelt, der soll einen Soldatenfriedhof besuchen“ – so pflegte es Jean-Claude Juncker zu sagen. Die Zweifel an Europa wachsen seit geraumer Zeit, und zugleich herrscht wieder Krieg in Europa. Der Volkstrauertag steht in diesem wie in den beiden letzten Jahren im Schatten dieses Krieges, des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Der Krieg zeigt uns, wie zerbrechlich die politische Ordnung auf der Welt und auch in Europa geworden ist. Und deshalb rückt ein Datum zunehmend in den Blick, das unsere Aufmerksamkeit verdient, und das für die ganze Welt ein schicksalhaftes Datum sein könnte, nämlich der 20. Januar 2025. An diesem Tag wird Donald Trump zum zweiten Mal in das Amt des amerikanischen Präsidenten eingeführt und mit ihm eine neue Regierung. Die ersten bekannt gewordenen Personalentscheidungen für diese neue Regierung lassen erahnen, dass die Welt auf dem Kopf stehen könnte.
In der Außenpolitik und in der Handelspolitik werden die USA einen grundlegenden Kurswechsel vollziehen. Wir werden eintreten in eine Phase des globalen Protektionismus, härter, wie wir es lange nicht gesehen haben. Und die amerikanische Regierung wird die Welt neu vermessen, ausschließlich nach ihren Interessen, die mit unseren vielbeschworenen Werten nicht unbedingt in Übereinstimmung stehen werden. Wir erleben nicht mehr und nicht weniger als die Vorboten einer tektonischen Verschiebung der politischen und ökonomischen Machtzentren auf der Welt.
Sind wir Europäer darauf vorbereitet? Haben wir eine Antwort auf das, was da absehbar geschieht? Oder warten wir einfach ab und lassen uns (wieder einmal) überraschen?
Es gibt in Europa ganz offenkundig keine gemeinsame Lageeinschätzung. Dafür sind die jeweiligen Interessen der Mitgliedstaaten und ihre Beziehungen zu den USA einfach zu unterschiedlich. Aber eine große Frage steht gleich zu Beginn des nächsten Jahres im Raum: Wie weiter mit der Ukraine? Wir müssen davon ausgehen, dass Präsident Trump schon jetzt an einem kurzfristigen Plan arbeitet, den Krieg zu beenden – mit größeren Gebietsabtretungen an Russland, ohne weitere Hilfen der USA an die Ukraine und mit Sicherheitsgarantien, für die die Europäer einstehen müssen. Wollen wir das? Wird das über die Köpfe der Ukrainer hinweg allein mit Russland so vereinbart? Oder versuchen wir, so früh wie möglich Einfluss zu nehmen auf das, was da absehbar geschehen könnte? Und wer ist dann „Wir“? Wir Deutsche allein sind es nicht, das dürfen wir nicht sein, und das können wir allein auch nicht. Aber zusammen mit Frankreich, Großbritannien und Polen könnten wir genügend Gewicht auf die Waage bringen, um diesen Prozess wenigstens mitzugestalten. Wenn wir diese Zusammenhänge jetzt nicht bald verstehen, dann wird die zukünftige politische Ordnung auf der Welt gänzlich ohne uns Europäer gestaltet. Und das wiederum hätte erhebliche Konsequenzen, nicht nur für unseren Wohlstand.
Beste Grüße
Ihr Friedrich Merz