Liebe Leserin, lieber Leser,
die rot-grün-gelbe Bundesregierung ist seit gut einem halben Jahr im Amt. Seit fast der Hälfte dieser Zeit ist sie mit einer Herausforderung konfrontiert, die kaum größer sein könnte: einem Krieg in der unmittelbaren Nachbarschaft. Nur ein Krieg auf dem eigenen Territorium könnte eine noch größere Bewährungsprobe sein. Drei Tage nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine gibt der Bundeskanzler eine Regierungserklärung im Deutschen Bundestag ab, die die eigene Koalition schockiert und der Welt Respekt abnötigt. Deutschland, so schien es, tritt an diesem Tag aus dem Schatten der eigenen Geschichte heraus und übernimmt Führungsverantwortung für sich und andere, so, wie es seiner Größe und Leistungsfähigkeit entspricht. An diesem Tag hätte der Bundeskanzler den Anfang setzen können für eine große und historisch bedeutsame Kanzlerschaft.
Doch am Tag danach beginnt der Sinkflug aus einer Flughöhe, die der Kanzler nicht halten kann und ganz offenbar auch nicht halten will. Statt zügig und eigenhändig die Voraussetzungen für alle Entscheidungen zu treffen, die er angekündigt hat, die Embargos, die Ausrüstung der Bundeswehr, die Unterstützung der Ukraine, überlässt er alle diese Dinge den Mühlen des Apparates seiner Regierung. Während wenigstens die Bundesaußenministerin und der Bundeswirtschaftsminister in ihrem Verantwortungsbereich anpacken und umsetzen, auch Zweifel und Vorsicht im Vorangehen offen ansprechen, verirrt sich der Bundeskanzler in einem Entscheidungs- und Kommunikationswirrwarr, wie die Bürger es in normalen Zeiten schon kaum nachvollziehen könnten. In Kriegszeiten wird es zum Führungsdesaster.
Dabei ist eine Verteidigungsministerin, die, kenntnisfrei und ambitionslos wie sie in der Verteidigungspolitik bis heute ist, lediglich dafür vorgesehen war, ein in der Partei des Bundeskanzlers ungeliebtes Amt proporzgerecht zu besetzen, und die nun mit Durchstechereien aus der Truppe gezeigt bekommt, was man dort von ihr hält, noch das kleinere Problem. Auch die Behauptung seiner in Wahlen und Umfragen auf das Niveau des Vorjahres abstürzenden Partei, der Bundeskanzler führe mit Ruhe und Besonnenheit, er habe eben nur leider ein Kommunikationsproblem, geht ziemlich genau am eigentlichen Problem vorbei. Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, so muss man es nach gut 80 Tagen Krieg in der Ukraine feststellen, hat auf diese größte Bedrohung unserer Freiheit nach den beiden Weltkriegen lediglich tagespolitisch orientierte, taktische Antworten und zugleich keinerlei strategische Vorstellung von dem, wie eine politische Ordnung für Deutschland und Europa nach diesem Krieg aussehen könnte.
Nur so lassen sich seine unklaren und widersprüchlichen Einlassungen zur Zukunft Europas und zu den Waffenlieferungen aus Deutschland an die Ukraine zumindest teilweise erklären. Er kennt die tiefen Verbindungen seiner Partei nach Russland und neben den ökonomischen Abhängigkeiten einiger ihrer Repräsentanten vor allem die über Jahrzehnte gewachsenen und gepflegten emotionalen Bindungen der SPD, die bis auf wenige Ausnahmen immer stärker waren als die in die USA. Die SPD ist bis heute gefangen in ihrer Ambivalenz zwischen Russland und dem durch Amerika geprägten Westen. Klaus von Dohnanyi, einer seiner Vorgänger im Amt des Hamburger Bürgermeisters und langjähriges Mitglied der Bundesregierung, spricht in diesen Tagen offen aus, wie stark dieses trügerisch-naive Selbstbild der SPD immer noch ist, einschließlich eines offenen Anti-Amerikanismus, wie er erschreckend ähnlich in AfD und Linkspartei nicht besser vorgetragen werden könnte.
Und genau da liegt das Führungsproblem von Olaf Scholz: Er müsste den offenen Bruch mit diesem Denken seiner eigenen Partei riskieren und sie aus den naiven Träumereien der Vergangenheit herausreißen, so, wie es Helmut Schmidt vor genau 40 Jahren mit dem NATO-Doppelbeschluss schon einmal versucht hat. Aber dazu fehlt ihm die Kraft und vermutlich auch die eindeutige Überzeugung. Er zeigt sich nach einer starken Rede am 27. Februar als das, was er immer schon war, als Taktiker der Macht. Führung in einer Zeitenwende sieht gänzlich anders aus.
Mit besten Grüßen
Ihr Friedrich Merz